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Die Bilder von Sabine Schneider

Rede zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie KONVEX 99, Neue Kauffahrtei, Chemnitz, 12. September 2002

Die Bilder von Sabine Schneider. Ich sage es gleich. Ich kann über sie nicht distanziert, abgehoben, quasi wissenschaftlich sprechen. Ich kann vor diesen Bildern auch nicht andächtig stehen bleiben. Dafür haben sie mich vom ersten Augenblick (das Wort in seiner schlichtesten Bedeutung genommen) an viel zu sehr beeindruckt. Ich bin fasziniert, ich bin parteiisch. Diese wirbeligen, quirligen Farben, die scheinbar so mühelos auf die Flächen gegeben worden sind, machen mich staunen. Jede Farbe scheint der anderen zu sagen: Jetzt lass’ mich mal ran, mach dich nicht so dick. Und trotzdem hat jede der vielen, manchmal eigentlich gar nicht zueinander passenden Farben ihren Platz, ihre Bedeutung. Auf mich machen diese Bilder, jedenfalls viele von ihnen, den unmittelbaren Eindruck, als würden sie vom Ursprung der Schöpfung stammen. Noch ist keine richtige Ordnung. Alles ist im Werden, steht am Anfang. Also, als seien sie das Chaos der griechischen Mythologie. Ich habe noch mal ins Lexikon gesehen, Chaos: Die ursprüngliche Leere der Welt, mit unbegrenztem, ungeformtem Urstoff als Vorstufe des endlichen und wohlgeformten Kosmos. Was mir neu ist: dass dieses Chaos, diese Vorstufe der Welt oder bestenfalls Anfangsstufe so farbig ist. Das ist sozusagen der Prozeß der Urschöpfung, gebändigt durch die Ergebnisse einer akademischen Ausbildung in bildender Kunst in Berlin um 1980, die Sabine Schneider genossen hat.

Nehmen wir die beiden Doppelbilder “Zu-Strömungen (symmetrisch)” und “Zu-Strömungen (asymmetrisch)”. Also, es fällt mir schwer, den auffälligsten Unterschied zwischen den beiden Werken in die Beschreibung “symmetrisch-asymmetrisch” zu packen. Hinsichtlich der Symmetrie scheinen sie mir mehr ähnlich als unähnlich. Es sei denn, ich komme wieder auf meine Eingangsmetapher zurück. Sie sind Urfarben vom ursprünglichen Chaos, und gerade jetzt, in diesem Moment beginnen die ersten ordnenden Elemente ihren Einzug in die Welt zu halten. Und so gesehen zeigt denn das eine Doppelbild einen Hauch mehr an Symmetrie als das andere. Eben war es noch dunkel und unfarbig, und die Erde war wüst und leer: jetzt ist der erste Schritt getan. Die Farbigkeit ist in die Welt gekommen, und schon deutet sich das erste Ordnungselement an, die Symmetrie. Aber es ist nur eine Andeutung. Weiter oben sehen Sie das Bild, das der Ausstellung ihren Namen gegeben hat. “Rondo Rubato”. “Rubato” heißt “gestohlen” und hat im Italienischen, wie ich dem Wörterbuch entnommen habe, eine ziemlich weite Bedeutung. “Rubare” heißt “Stehlen wie ein Rabe”, aber auch “jemandem das Herz stehlen”. In der Musik bedeutet es das bewusst veränderte ungleichmäßige Tempo in der Ausführung als eigentlich notiert. Und “Rondo” ist das Rondell, das Ringelgedicht, der Rundgesang, im Eigentlichen das Kreisende. Für mich stellt das Bild die Fortsetzung der Zu-Strömenden dar. Bei etwas genauerem Hinsehen zeigen sich Figuren, kreisende, wirbelnde Figuren. Das Chaos hat sich schon weiter gelichtet und ist im Begriff, Figuren, wahrscheinlich ja wohl Menschen (aber so gewiss ist das noch nicht) in ihren ersten Umrissen entstehen zu lassen. Bei diesem Bild ist mir eine literarische Assoziation gekommen, die auf viele der Bilder Sabine Schneiders zutreffen könnte. Dantes “Göttliche Komödie” und zwar das “Paradies”. Die Seelen, die nicht in den Höllenkreisen und nicht mehr im Fegefeuer hausen, kreisen um das Zentrum schlechthin. Das ist aber bei Sabine Schneider nicht von der Himmelskönigin und nicht von Dantes Beatrice ausgefüllt, sondern von einem intensiven kreisenden Blau. Alles ist möglich. Alles kann daraus werden.

Um bei den Assoziationen aus und zu anderen Künsten zu bleiben. Die Musik, die erklingen sollte, es wäre für mich Posaunenmusik oder Hörnerklänge. Vielleicht eines von Mozarts Konzerten für Hörner oder ein sehnsuchtsvolles Oboenkonzert. Aber es geht jetzt um die Bilder. Da sehen wir noch die “Kaskadeure”. Schon der Titel ist so wunderbar erfunden. Denn bisher, vor Sabine Schneider, gab es keine Kaskadeure. Auch nicht als Schimpfwort. “Sie widerlicher Kaskadeur, gehen sie mir aus den Augen!” – noch als Kosebezeichnung, “Du bist der liebste Kaskadeur, den ich kenne”. Trotzdem ist der Titel zwangsläufig, wenn man das Bild ansieht. Auf- und abschwellende, bewegte, fließende, kaskadenartige Figuren – eben Kaskadeure, was sonst? Drüben im Eingangsbereich der nördlichen Seite hängen einige kleinere Formate. Aquarelle in einer Farbgebung und Farbintensität, die schon sehr gewagt und sehr gekonnt sind, und die das Weiß des Bilduntergrundes, des Papiers als Steigerung wirkungsvoll nutzen. Da ist wieder einmal ein sehr bewegtes deitliches Rot, gefasst in einem kräftigen, leuchtenden Grün, alles gerade explodierend (aber nicht zerstörend). “Zentrisch” heißt das Bild. Die Graphitzeichnungen auf Papier, aus den 90er Jahren. Ein Titel: “Stille Beobachter”. Ich sehe Zyklopen. Sie bewachen wahrscheinlichen einen Höhleneingang oder einen Weg in den Felsen von Irgendwo nach Irgendwo. Auch sie, die Stillen Beobachter haben etwas Urtümliches, Urweltliches. Sie wirken zwar nicht bedrohlich, aber vielleicht sehr distanziert, sehr zeitlos. Sie stehen noch in Ewigkeiten.

Wilhelm Kaltenborn