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Die Macht der Karten in der Arbeit von Sabine Schneider

Das Bedürfnis, ein Abbild der Erdoberfläche zu erstellen ist uralt und hat seine Anfänge bereits bei den Ägyptern und Sumerern, die die Welt als eine einfache Aufteilung in Inseln und Sternenbildern begriffen.1 Die Karten haben sich reziprok mit dem Weltbild verändert. Spätestens im Holland des 16. Jahrhunderts und 17. Jahrhunderts mit den berühmten Kartographen Abraham Ortelius (1527-1598) und Willem Janszoon Blaeu (1571-1638) findet die totale Verbildlichung der gesamten bekannten Welt statt. Es entstand ein Bild der Welt, ein Weltbild.2 Die Verortung von mythischen Ungeheuern und Göttern auf Karten ist schon seit dem 18. Jahrhundert der reinen Visualisierung der geographischen Begebenheiten gewichen. So scheint die Kartographie untrennbar von einer religiösen oder ideologischen Weltanschauung zu sein.

Die von Sabine Schneider benutzten großformatigen Schulkarten der 70er und 80er Jahre in ihrer Werkreihe „Fiktive Welten“ lassen sich unter der Farbschicht noch erkennen. Sie scheinen nur noch ein nüchternes Orientierungs- und Informationsmittel zu sein und zeigen Berge, Flüsse, Seen oder das für Menschen verkehrstechnisch Relevante wie Städte, Ortschaften und Straßen, Eisenbahn- und Schifffahrtslinien. Im ersten Moment fühlt man sich in den Geographieunterricht in der Schule vor dem digitalen Zeitalter zurück versetzt. Sie hatten einst die Aufgabe, in den jungen Menschen ein Bild von der Welt entstehen zu lassen, also ein Weltbild zu formen.

Doch zeigen die Karten von Sabine Schneider noch die jeweils dargestellte Region? In unserer Wahrnehmung oszillieren diese Werke zwischen der gewohnten, topographischen Vorstellung und der Visualisierung einer anderen Welt. Sabine Schneider lehnt sich in ihren Arbeiten bewusst an den graphischen und farblichen Konsens der Kartographie an, der die Visualisierung raum-zeitlicher Informationen symbolisiert. Durch die bedachten, malerischen Eingriffe in die Darstellung der Kontinente und Länder, löst sie die scheinbar allgemeingültige Übersicht über Territorien, Besiedlung, geographische und wirtschaftliche Verhältnisse auf. Sie werfen die Frage auf, welche farblichen Elemente in den Karten die Wirklichkeit repräsentieren und welche neuen Konstruktionen entsprechen.3 Unser vermeintliches Bild von der Welt ist irritiert. Eine andere Geographie entsteht, eine neue Welt entwickelt sich in unserem Gedankenraum. Es ist der Blick auf einen schöpferischen Moment, der eine neue, imaginäre Landschaft hervorgebracht hat.

Denn die Welt ist in Bewegung. Der Mensch verändert immer wieder seine Umwelt und gestaltet sie neu. Dabei geht es Sabine Schneider um das Visualisieren, das Sichtbarmachen von Nichtdargestelltem in der Kartographie.4 So erfasst sie in ihrer Werkreihe „Fiktive Welten“ mit Hilfe künstlerischer Visualisierungsmittel prekäre geographische, zivilisatorische und industrielle Bedingungen. Indem sie beispielsweise in dem Werk „Fiktive Welten no.12 (Israel und seine arabischen Nachbarn)“ aus dem Jahr 2016 grüne Vegetationsflächen in eine hell erdige Wüstenlandschaft verwandelt, Städte durch Übermalung verschwinden lässt oder durch blaue Farbflüsse miteinander verbindet, bezieht sie sich auf die Ressourcen verbrauchenden Lebensweisen des Menschen. Diese menschlichen Eingriffe haben das Gesicht der Erde und die Lebensgrundlagen aller Lebewesen dramatisch verändert.

Sabine Schneider bringt durch ihre künstlerischen Interventionen geopolitische Probleme zum Ausdruck. Ländergrenzen ändern sich, Krieg und Migration lassen Städte entstehen oder verschwinden, und Grenzüberschreitungen bilden sowohl neue Wege als auch neue Fronten. Dies zu veranschaulichen, eliminiert Sabine Schneider Grenzen symbolisierende rote Linien oder lässt sie verändert durch das Bild mäandern. Besonders die gegenwärtigen, nationalistischen Bewegungen in weiten Teilen Europas und Amerikas ist für die Anlass bewusst die territoriale Selbstvergewisserung zu nehmen und markiert durch ihre ästhetische Umgestaltung auch ein politisches Statement. Diese künstlerische Haltung erinnert an Max Ernsts (1891-1976) Werk „Europa nach dem Regen I“ aus dem Jahr 1933, das aus Anlass der Machtergreifung Hitlers und die darauffolgenden Pogrome gegen alle anders denkenden Menschen entstand. Dieses großformatige, visionäre Gipsrelief zeigt den europäischen Kontinent in völlig verwüsteter Form, da weite Teile ganzer Landstriche wie weggeschwemmt erscheinen sowie alle Spuren der Zivilisation verwischt sind. Ernst gestaltete dieses Werk als Warnung vor dem europaweiten Faschismus und zeigte seinen Zeitgenossen die Konsequenzen der Ideologie in der Zukunft auf.5

Den Eindruck von Verwüstung erweckt auch Sabine Schneider in ihrem Werk „Fiktive Welten no.12 (Israel und seine arabischen Nachbarn)“ und bezieht sich auf die Geschichte des Nahen Ostens, als nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg die europäischen Siegermächte viele Grenzen der Region machtpolitisch auf dem Reißbrett festlegten. Diese Grenzziehungen hatten weitreichende politische Folgen und sind mitverantwortlich für die aktuellen Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen in dieser Region.

Den konfliktreichen Grenzverläufen und der interessengeleiteten Aufteilung der Welt widmet sich Sabine Schneider auch in den seriellen Arbeiten „Mapping“, in denen sie für ihre künstlerischen Umgestaltungen einen Nachdruck einer amerikanischen Weltkarte vom Ende des 19. Jahrhundert verwendet. Die Welt liegt vor uns ausgebreitet, jede noch so kleine Fläche ist als Land gekennzeichnet. Die Welt erscheint vollkommen aufgeteilt und durch Seewege verbunden. Sabine Schneider entzieht der Karte aber ihre Funktion, ein erschlossenes Weltbild zu vermitteln, indem sie Elemente der raum-zeitlichen Informationen in Weiß taucht. Das erinnert daran, dass jenseits aller Aufklärung es sie noch gibt, die Terra incognita: unerschlossene, vergessene oder verbotene Gebiete.

Sabine Schneider lebte selbst viele Jahre in einem auf DDR-Landkarten weißen Fleck. Dies war die typische Darstellung von West-Berlin in der Kartenproduktion des ostdeutschen Staates. Den Bürgern wurden jegliche Informationen über den anderen Teil der Hauptstadt vorenthalten, um keine wichtigen Informationen für eine mögliche Flucht nach West-Berlin zu geben. Auf der anderen Seite wurden auch DDR-Gebiete, wie die Grenzregionen und Militärstützpunkte, zur Desorientierung für den Rest der Welt unkenntlich gemacht. Sabine Schneiders Arbeiten lassen uns erneu die Kraft von Karten überdenken.6 Sie verdeutlichen uns, dass „Karten Herrschaftsinstrumente sind, vor allem wenn sie alternativlos bleiben“.7 Karten lügen, wenn sie etwas verschweigen oder sie verfälschen die Realität, wenn sie militär-politische relevante Elemente konstruieren. Kartographische Manipulation war nicht nur im Kalten Krieg ein altbewährtes Mittel politischer Machtstrategien, sondern auch nach den neusten Erkenntnissen in der Besetzung des Irak 2003.

Nicht zuletzt ist Sabine Schneiders topographische Malerei vor allem eine Auseinandersetzung mit konventioneller Raum- und Grenzwahrnehmungen im Allgemeinen. So gelingt ihr letztendlich der Ausbruch aus dem Repräsentationszirkel der Kartographie wie einst Jasper Johns (*1930) mit seinem legendärem Werk „Map“ von 1961.8 Wie in seiner gemalten Pop-Art-Ikone der Amerikanischen Karte spielt auch Sabine Schneider bewusst mit den Grenzen zwischen Kartographie und Malerei. Sie stellt in ihren Arbeiten mit Schulkarten durch die Veränderung von Zeichensystemen unsere Vorstellungen von Räumen und Territorien in Frage und führt die Aufteilung der Welt in Kartensystemen ad absurdum. Denn allein Linien und Farben symbolisieren in der Kartographie Grenzen, topographische Begebenheiten, politische und wirtschaftliche Einflüsse und werden vom Betrachter als solche akzeptiert. Die Grundelemente der Malerei werden zum Signifikanten von komplexen Weltzusammenhängen. Durch die Übermalungen der Karten modifiziert sie gewohnte, formale Zusammenhänge und verändert spezifische graphische Elemente, Darstellungs- und Farbsysteme. Auf diese Weise verwischt sie durch bildnerische Veränderungen die klare Identifizierbarkeit dargestellter topografischer Kontexte.

Diesen zerlegten Kartensystemen nähert sie sich auch zeichnerisch und grafisch in den seriellen Arbeiten „Fragmentierte Landschaften“ und greift die graphischen Elemente der Kartenzeichnung, reduziert auf schwarze und rote Linien auf, um sie in mehreren Schichten neben und übereinander darzustellen. In dieser formal-ästhetischen Ebene verweigern sich Linien und Farben als herkömmliche Bedeutungsträger und folgen frei in ihrer graphischen Komposition der bloßen Existenz als visuelle Farbkörper. Was ist aber dann in unserem Bewusstsein der Signifikant und der Signifikat? So oszillieren die Arbeiten zwischen politischer, historischer, topografischer Bedeutungsebene und assoziativ-freiem, visuellem Informel.

Sabine Schneider (*1956) lebt und arbeitet in Berlin. Neben ihrer künstlerischen Arbeit engagiert sie sich als Kultur- und Kunstvermittlerin und ist seit 2007 erste Vorsitzende im Verein Berliner Künstler.

Florentine Zurek, 2017


  1. Schmidt, Burghardt, Map Art. Eine Transferkunst aus Orientierungsexperimenten, in: Reder, Christian (Hg.), Kartographisches Denken, Wien 2012, S. 312. ↩︎
  2. Casey, Edward, Ortsbeschreibungen. Landschaftsmalerei und Kartographie, München 2006, S.252. ↩︎
  3. Weibl, Peter, Landkarten: Konstruktionen oder Wirklichkeit?, in: Reder, 2012, S. 53. ↩︎
  4. Vgl. Reder, 2012, S. 14. ↩︎
  5. Drost, Julia, Nur im Westen gibt es Neues. Max Ernst zwischen Deutschland, Frankreich und Amerika, in: Fleckner, Uwe/Steinkmap, Maike/Ziegler, Hendrik (Hg.), Der Künstler in der Fremde.
    Migration-Reise-Exil, 2015 Berlin, S. 246. ↩︎
  6. Vgl. Wood, Denis, Rethinking the power of maps, New York 2010. ↩︎
  7. Phillipe Rekacewicz im Gespräch mit Christian Reder, in: Reder, 2012, S.16. ↩︎
  8. Casey, Edward, Earth-mapping. Artists reshaping landscape, Minneapolis 2005, S. 124. ↩︎